--- title: "Laotse - Tao te Ching" draft: false description: "Deutsche Übersetzung des Tao te Ching (Taotse) von Richard Wilhelm." toc: false cat: - philosophy --- \ *Laotse\ Tao te king* Das Buch vom Sinn und Leben\ Übersetzt von Richard Wilhelm\ *HTML Herausgabe von Dan Baruth* \ \ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 1\ | | | | Der SINN, der sich aussprechen läßt,\ | | ist nicht der ewige SINN.\ | | Der Name, der sich nennen läßt,\ | | ist nicht der ewige Name.\ | | »Nichtsein« nenne ich den Anfang von Himmel und Erde.\ | | »Sein« nenne ich die Mutter der Einzelwesen.\ | | Darum führt die Richtung auf das Nichtsein\ | | zum Schauen des wunderbaren Wesens,\ | | die Richtung auf das Sein\ | | zum Schauen der räumlichen Begrenztheiten.\ | | Beides ist eins dem Ursprung nach\ | | und nur verschieden durch den Namen.\ | | In seiner Einheit heißt es das Geheimnis.\ | | Des Geheimnisses noch tieferes Geheimnis\ | | ist das Tor, durch das alle Wunder hervortreten. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 2\ | | | | Wenn auf Erden alle das Schöne als schön erkennen,\ | | so ist dadurch schon das Häßliche gesetzt.\ | | Wenn auf Erden alle das Gute als gut erkennen,\ | | so ist dadurch schon das Nichtgute gesetzt.\ | | Denn Sein und Nichtsein erzeugen einander.\ | | Schwer und Leicht vollenden einander.\ | | Lang und Kurz gestalten einander.\ | | Hoch und Tief verkehren einander.\ | | Stimme und Ton sich vermählen einander.\ | | Vorher und Nachher folgen einander.\ | | \ | | Also auch der Berufene:\ | | Er verweilt im Wirken ohne Handeln.\ | | Er übt Belehrung ohne Reden.\ | | Alle Wesen treten hervor,\ | | und er verweigert sich ihnen nicht.\ | | Er erzeugt und besitzt nicht.\ | | Er wirkt und behält nicht.\ | | Ist das Werk vollbracht,\ | | so verharrt er nicht dabei.\ | | Und eben weil er nicht verharrt,\ | | bleibt er nicht verlassen. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 3\ | | | | Die Tüchtigen nicht bevorzugen,\ | | so macht man, daß das Volk nicht streitet.\ | | Kostbarkeiten nicht schätzen,\ | | so macht man, daß das Volk nicht stiehlt.\ | | Nichts Begehrenswertes zeigen,\ | | so macht man, daß des Volkes Herz nicht wirr wird.\ | | \ | | Darum regiert der Berufene also:\ | | Er leert ihre Herzen und füllt ihren Leib.\ | | Er schwächt ihren Willen und stärkt ihre Knochen\ | | und macht, daß das Volk ohne Wissen\ | | und ohne Wünsche bleibt,\ | | und sorgt dafür,\ | | daß jene Wissenden nicht zu handeln wagen.\ | | Er macht das Nichtmachen,\ | | so kommt alles in Ordnung. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 4\ | | | | Der SINN ist immer strömend.\ | | Aber er läuft in seinem Wirken doch nie über.\ | | Ein Abgrund ist er, wie der Ahn aller Dinge.\ | | Er mildert ihre Schärfe.\ | | Er löst ihre Wirrsale.\ | | Er mäßigt ihren Glanz.\ | | Er vereinigt sich mit ihrem Staub.\ | | Tief ist er und doch wie wirklich.\ | | Ich weiß nicht, wessen Sohn er ist.\ | | Er scheint früher zu sein als Gott. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 5\ | | | | Himmel und Erde sind nicht gütig.\ | | Ihnen sind die Menschen wie stroherne Opferhunde.\ | | Der Berufene ist nicht gütig.\ | | Ihm sind die Menschen wie stroherne Opferhunde.\ | | Der Zwischenraum zwischen Himmel und\ | | Erde ist wie eine Flöte,\ | | leer und fällt doch nicht zusammen;\ | | bewegt kommt immer mehr daraus hervor.\ | | Aber viele Worte erschöpfen sich daran.\ | | Besser ist es, das Innere zu bewahren. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 6\ | | | | Der Geist des Tals stirbt nicht,\ | | das heißt das dunkle Weib.\ | | Das Tor des dunklen Weibs,\ | | das heißt die Wurzel von Himmel und Erde.\ | | Ununterbrochen wie beharrend\ | | wirkt es ohne Mühe. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 7\ | | | | Der Himmel ist ewig und die Erde dauernd.\ | | Sie sind dauernd und ewig,\ | | weil sie nicht sich selber leben.\ | | Deshalb können sie ewig leben.\ | | \ | | Also auch der Berufene:\ | | Er setzt sein Selbst hintan,\ | | und sein Selbst kommt voran.\ | | Er entäußert sich seines Selbst,\ | | und sein Selbst bleibt erhalten.\ | | Ist es nicht also:\ | | Weil er nichts Eigenes will,\ | | darum wird sein Eigenes vollendet? | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 8\ | | | | Höchste Güte ist wie das Wasser.\ | | Des Wassers Güte ist es,\ | | allen Wesen zu nützen ohne Streit.\ | | Es weilt an Orten, die alle Menschen verachten.\ | | Drum steht es nahe dem SINN.\ | | Beim Wohnen zeigt sich die Güte an dem Platze.\ | | Beim Denken zeigt sich die Güte in der Tiefe.\ | | Beim Schenken zeigt sich die Güte in der Liebe.\ | | Beim Reden zeigt sich die Güte in der Wahrheit.\ | | Beim Walten zeigt sich die Güte in der Ordnung.\ | | Beim Wirken zeigt sich die Güte im Können.\ | | Beim Bewegen zeigt sich die Güte in der rechten Zeit.\ | | Wer sich nicht selbst behauptet,\ | | bleibt eben dadurch frei von Tadel. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 9\ | | | | Etwas festhalten wollen und dabei es überfüllen:\ | | das lohnt der Mühe nicht.\ | | Etwas handhaben wollen und dabei es immer scharf halten:\ | | das läßt sich nicht lange bewahren.\ | | Mit Gold und Edelsteinen gefüllten Saal\ | | kann niemand beschützen.\ | | Reich und vornehm und dazu hochmütig sein:\ | | das zieht von selbst das Unglück herbei.\ | | Ist das Werk vollbracht, dann sich zurückziehen:\ | | das ist des Himmels SINN. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 10\ | | | | Kannst du deine Seele bilden, daß sie das Eine umfängt,\ | | ohne sich zu zerstreuen?\ | | Kannst du deine Kraft einheitlich machen\ | | und die Weichheit erreichen,\ | | daß du wie ein Kindlein wirst?\ | | Kannst du dein geheimes Schauen so reinigen,\ | | daß es frei von Flecken wird?\ | | Kannst du die Menschen heben und den Staat lenken,\ | | daß du ohne Wissen bleibst?\ | | Kannst du, wenn des Himmels Pforten\ | | sich öffnen und schließen,\ | | wie eine Henne sein?\ | | Kannst du mit deiner inneren Klarheit und Reinheit\ | | alles durchdringen, ohne des Handelns zu bedürfen?\ | | Erzeugen und ernähren,\ | | erzeugen und nicht besitzen,\ | | wirken und nicht behalten,\ | | mehren und nicht beherrschen:\ | | das ist geheimes LEBEN. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 11\ | | | | Dreißig Speichen umgeben eine Nabe:\ | | In ihrem Nichts besteht des Wagens Werk.\ | | Man höhlet Ton und bildet ihn zu Töpfen:\ | | In ihrem Nichts besteht der Töpfe Werk.\ | | Man gräbt Türen und Fenster, damit die Kammer werde:\ | | In ihrem Nichts besteht der Kammer Werk.\ | | \ | | Darum: Was ist, dient zum Besitz.\ | | Was nicht ist, dient zum Werk. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 12\ | | | | Die fünferlei Farben machen der Menschen Augen blind.\ | | Die fünferlei Töne machen der Menschen Ohren taub.\ | | Die fünferlei Würzen machen der Menschen Gaumen schal.\ | | Rennen und jagen machen der Menschen Herzen toll.\ | | Seltene Güter machen der Menschen Wandel wirr.\ | | \ | | Darum wirkt der Berufene für den Leib und nicht fürs Auge.\ | | Er entfernt das andere und nimmt dieses. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 13\ | | | | Gnade ist beschämend wie ein Schreck.\ | | Ehre ist ein großes Übel wie die Person.\ | | Was heißt das: »Gnade ist beschämend wie ein Schreck«?\ | | Gnade ist etwas Minderwertiges.\ | | Man erlangt sie und ist wie erschrocken.\ | | Man verliert sie und ist wie erschrocken.\ | | Das heißt: »Gnade ist beschämend wie ein Schreck«.\ | | Was heißt das: »Ehre ist ein großes Übel wie die Person«?\ | | Der Grund, warum ich große Übel erfahre, ist,\ | | daß ich eine Person habe.\ | | Habe ich keine Person,\ | | was für Übel könnte ich dann erfahren?\ | | \ | | Darum: Wer in seiner Person die Welt ehrt,\ | | dem kann man wohl die Welt anvertrauen.\ | | Wer in seiner Person die Welt liebt,\ | | dem kann man wohl die Welt übergeben. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 14\ | | | | Man schaut nach ihm und sieht es nicht:\ | | Sein Name ist Keim.\ | | Man horcht nach ihm und hört es nicht:\ | | Sein Name ist Fein.\ | | Man faßt nach ihm und fühlt es nicht:\ | | Sein Name ist Klein.\ | | Diese drei kann man nicht trennen,\ | | darum bilden sie vermischt Eines.\ | | Sein Oberes ist nicht licht,\ | | sein Unteres ist nicht dunkel.\ | | Ununterbrochen quellend,\ | | kann man es nicht nennen.\ | | Er kehrt wieder zurück zum Nichtwesen.\ | | Das heißt die gestaltlose Gestalt,\ | | das dinglose Bild.\ | | Das heißt das dunkel Chaotische.\ | | Ihm entgegengehend sieht man nicht sein Antlitz,\ | | ihm folgend sieht man nicht seine Rückseite.\ | | Wenn man festhält den SINN des Altertums,\ | | um zu beherrschen das Sein von heute,\ | | so kann man den alten Anfang wissen.\ | | Das heißt des SINNS durchgehender Faden. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 15\ | | | | Die vor alters tüchtig waren als Meister,\ | | waren im Verborgenen eins mit den unsichtbaren Kräften.\ | | Tief waren sie, so daß man sie nicht kennen kann.\ | | Weil man sie nicht kennen kann,\ | | darum kann man nur mit Mühe ihr Außeres beschreiben.\ | | Zögernd, wie wer im Winter einen Fluß durchschreitet,\ | | vorsichtig, wie wer von allen Seiten Nachbarn fürchtet,\ | | zurückhaltend wie Gäste,\ | | vergehend wie Eis, das am Schmelzen ist,\ | | einfach, wie unbearbeiteter Stoff,\ | | weit waren sie, wie das Tal,\ | | undurchsichtig waren sie, wie das Trübe.\ | | Wer kann (wie sie) das Trübe durch Stille allmählich klären?\ | | Wer kann (wie sie) die Ruhe\ | | durch Dauer allmählich erzeugen?\ | | Wer diesen SINN bewahrt,\ | | begehrt nicht Fülle.\ | | Denn nur weil er keine Fülle hat,\ | | darum kann er gering sein,\ | | das Neue meiden\ | | und die Vollendung erreichen. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 16\ | | | | Schaffe Leere bis zum Höchsten!\ | | Wahre die Stille bis zum Völligsten!\ | | Alle Dinge mögen sich dann zugleich erheben.\ | | Ich schaue, wie sie sich wenden.\ | | Die Dinge in all ihrer Menge,\ | | ein jedes kehrt zurück zu seiner Wurzel.\ | | Rückkehr zur Wurzel heißt Stille.\ | | Stille heißt Wendung zum Schicksal.\ | | Wendung zum Schicksal heißt Ewigkeit.\ | | Erkenntnis der Ewigkeit heißt Klarheit.\ | | Erkennt man das Ewige nicht,\ | | so kommt man in Wirrnis und Sünde.\ | | Erkennt man das Ewige,\ | | so wird man duldsam.\ | | Duldsamkeit führt zur Gerechtigkeit.\ | | Gerechtigkeit führt zur Herrschaft.\ | | Herrschaft führt zum Himmel.\ | | Himmel führt zum SINN.\ | | SINN führt zur Dauer.\ | | Sein Leben lang kommt man nicht in Gefahr. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 17\ | | | | Herrscht ein ganz Großer,\ | | so weiß das Volk kaum, daß er da ist.\ | | Mindere werden geliebt und gelobt,\ | | noch Mindere werden gefürchtet,\ | | noch Mindere werden verachtet.\ | | Wie überlegt muß man sein in seinen Worten!\ | | Die Werke sind vollbracht, die Geschäfte gehen ihren Lauf,\ | | und die Leute denken alle:\ | | »Wir sind frei. « | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 18\ | | | | Geht der große SINN zugrunde,\ | | so gibt es Sittlichkeit und Pflicht.\ | | Kommen Klugheit und Wissen auf,\ | | so gibt es die großen Lügen.\ | | Werden die Verwandten uneins,\ | | so gibt es Kindespflicht und Liebe.\ | | Geraten die Staaten in Verwirrung,\ | | so gibt es die treuen Beamten. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 19\ | | | | Tut ab die Heiligkeit, werft weg das Wissen,\ | | so wird das Volk hundertfach gewinnen.\ | | Tut ab die Sittlichkeit, werft weg die Pflicht,\ | | so wird das Volk zurückkehren zu Kindespflicht und Liebe.\ | | Tut ab die Geschicklichkeit, werft weg den Gewinn,\ | | so wird es Diebe und Räuber nicht mehr geben.\ | | In diesen drei Stücken ist der schöne Schein nicht ausreichend.\ | | Darum sorgt, daß die Menschen sich an etwas halten können.\ | | Zeigt Einfachheit, haltet fest die Lauterkeit!\ | | Mindert Selbstsucht, verringert die Begierden!\ | | Gebt auf die Gelehrsamkeit!\ | | So werdet ihr frei von Sorgen. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 20\ | | | | Zwischen »Gewiß« und »jawohl«:\ | | was ist da für ein Unterschied?\ | | Zwischen »Gut« und »Böse«:\ | | was ist da für ein Unterschied?\ | | Was die Menschen ehren, muß man ehren.\ | | O Einsamkeit, wie lange dauerst Du?\ | | Alle Menschen sind so strahlend,\ | | als ginge es zum großen Opfer,\ | | als stiegen sie im Frühling auf die Türme.\ | | Nur ich bin so zögernd, mir ward noch kein Zeichen,\ | | wie ein Säugling, der noch nicht lachen kann,\ | | unruhig, umgetrieben, als hätte ich keine Heimat.\ | | Alle Menschen haben Überfluß;\ | | nur ich bin wie vergessen.\ | | Ich habe das Herz eines Toren, so wirr und dunkel.\ | | Die Weltmenschen sind hell, ach so hell;\ | | nur ich bin wie trübe.\ | | Die Weltmenschen sind klug, ach so klug;\ | | nur ich bin wie verschlossen in mir,\ | | unruhig, ach, als wie das Meer,\ | | wirbelnd, ach, ohn Unterlaß.\ | | Alle Menschen haben ihre Zwecke;\ | | nur ich bin müßig wie ein Bettler.\ | | Ich allein bin anders als die Menschen:\ | | Doch ich halte es wert,\ | | Nahrung zu suchen bei der Mutter. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 21\ | | | | Des großen LEBENS Inhalt\ | | folgt ganz dem SINN.\ | | Der SINN bewirkt die Dinge\ | | so chaotisch, so dunkel.\ | | Chaotisch, dunkel\ | | sind in ihm Bilder.\ | | Dunkel, chaotisch\ | | sind in ihm Dinge.\ | | Unergründlich finster\ | | ist in ihm Same.\ | | Dieser Same ist ganz wahr.\ | | In ihm ist Zuverlässigkeit.\ | | Von alters bis heute\ | | sind die Namen nicht zu entbehren,\ | | um zu überschauen alle Dinge.\ | | Woher weiß ich aller Dinge Art?\ | | Eben durch sie. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 22\ | | | | Was halb ist, wird ganz werden.\ | | Was krumm ist, wird gerade werden.\ | | Was leer ist, wird voll werden.\ | | Was alt ist, wird neu werden.\ | | Wer wenig hat, wird bekommen.\ | | Wer viel hat, wird benommen.\ | | \ | | Also auch der Berufene:\ | | Er umfaßt das Eine\ | | und ist der Welt Vorbild.\ | | Er will nicht selber scheinen,\ | | darum wird er erleuchtet.\ | | Er will nichts selber sein,\ | | darum wird er herrlich.\ | | Er rühmt sich selber nicht,\ | | darum vollbringt er Werke.\ | | Er tut sich nicht selber hervor,\ | | darum wird er erhoben.\ | | Denn wer nicht streitet,\ | | mit dem kann niemand auf der Welt streiten.\ | | Was die Alten gesagt: »Was halb ist, soll voll werden«,\ | | ist fürwahr kein leeres Wort.\ | | Alle wahre Vollkommenheit ist darunter befaßt. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 23\ | | | | Macht selten die Worte,\ | | dann geht alles von selbst.\ | | Ein Wirbelsturm dauert keinen Morgen lang.\ | | Ein Platzregen dauert keinen Tag.\ | | Und wer wirkt diese?\ | | Himmel und Erde.\ | | Was nun selbst Himmel und Erde nicht dauernd vermögen,\ | | wieviel weniger kann das der Mensch?\ | | \ | | Darum: Wenn du an dein Werk gehst mit dem SINN,\ | | so wirst du mit denen, so den SINN haben, eins im SINN,\ | | mit denen so das LEBEN haben, eins im LEBEN,\ | | mit denen, so arm sind, eins in ihrer Armut.\ | | Bist du eins mit ihnen im SINN,\ | | so kommen dir die, so den SINN haben,\ | | auch freudig entgegen.\ | | Bist du eins mit ihnen im LEBEN,\ | | so kommen dir die, so das LEBEN haben,\ | | auch freudig entgegen.\ | | Bist du eins mit ihnen in ihrer Armut,\ | | so kommen dir die, so da arm sind, auch freudig entgegen.\ | | Wo aber der Glaube nicht stark genug ist,\ | | da findet man keinen Glauben. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 24\ | | | | Wer auf den Zehen steht, steht nicht fest.\ | | Wer mit gespreizten Beinen geht,\ | | kommt nicht voran.\ | | Wer selber scheinen will,\ | | wird nicht erleuchtet.\ | | Wer selber etwas sein will,\ | | wird nicht herrlich.\ | | Wer selber sich rühmt,\ | | vollbringt nicht Werke.\ | | Wer selber sich hervortut,\ | | wird nicht erhoben.\ | | Er ist für den SINN wie Küchenabfall und Eiterbeule.\ | | Und auch die Geschöpfe alle hassen ihn.\ | | Darum: Wer den SINN hat,\ | | weilt nicht dabei. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 25\ | | | | Es gibt ein Ding, das ist unterschiedslos vollendet.\ | | Bevor der Himmel und die Erde waren, ist es schon da,\ | | so still, so einsam.\ | | Allein steht es und ändert sich nicht.\ | | Im Kreis läuft es und gefährdet sich nicht.\ | | Man kann es nennen die Mutter der Welt.\ | | Ich weiß nicht seinen Namen.\ | | Ich bezeichne es als SINN.\ | | Mühsam einen Namen ihm gebend,\ | | nenne ich es: groß.\ | | Groß, das heißt immer bewegt.\ | | Immer bewegt, das heißt ferne.\ | | Ferne, das heißt zurückkehrend.\ | | So ist der SINN groß, der Himmel groß, die Erde groß,\ | | und auch der Mensch ist groß.\ | | Vier Große gibt es im Raume,\ | | und der Mensch ist auch darunter.\ | | Der Mensch richtet sich nach der Erde.\ | | Die Erde richtet sich nach dem Himmel.\ | | Der Himmel richtet sich nach dem SINN.\ | | Der SINN richtet sich nach sich selber. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 26\ | | | | Das Gewichtige ist des Leichten Wurzel.\ | | Die Stille ist der Unruhe Herr.\ | | \ | | Also auch der Berufene:\ | | Er wandert den ganzen Tag,\ | | ohne sich vom schweren Gepäck zu trennen.\ | | Mag er auch alle Herrlichkeiten vor Augen haben:\ | | Er weilt zufrieden in seiner Einsamkeit.\ | | Wieviel weniger erst darf der Herr des Reiches\ | | in seiner Person den Erdkreis leicht nehmen!\ | | Durch Leichtnehmen verliert man die Wurzel.\ | | Durch Unruhe verliert man die Herrschaft. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 27\ | | | | Ein guter Wanderer läßt keine Spur zurück.\ | | Ein guter Redner braucht nichts zu widerlegen.\ | | Ein guter Rechner braucht keine Rechenstäbchen.\ | | Ein guter Schließer braucht nicht Schloß noch Schlüssel,\ | | und doch kann niemand auftun.\ | | Ein guter Bindet braucht nicht Strick noch Bänder,\ | | und doch kann niemand lösen.\ | | Der Berufene versteht es immer gut, die Menschen zu retten;\ | | darum gibt es für ihn keine verworfenen Menschen.\ | | Er versteht es immer gut, die Dinge zu retten;\ | | darum gibt es für ihn keine verworfenen Dinge.\ | | Das heißt die Klarheit erben.\ | | So sind die guten Menschen die Lehrer der Nichtguten,\ | | und die nichtguten Menschen sind der Stoff für die Guten.\ | | Wer seine Lehrer nicht werthielte und seinen Stoff nicht liebte,\ | | der wäre bei allem Wissen in schwerem Irrtum.\ | | Das ist das große Geheimnis. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 28\ | | | | Wer seine Mannheit kennt\ | | und seine Weibheit wahrt,\ | | der ist die Schlucht der Welt.\ | | Ist er die Schlucht der Welt,\ | | so verläßt ihn nicht das ewige LEBEN,\ | | und er wird wieder wie ein Kind.\ | | \ | | Wer seine Reinheit kennt\ | | und seine Schwäche wahrt,\ | | ist Vorbild für die Welt.\ | | Ist Vorbild er der Welt,\ | | so weicht von ihm nicht das ewige LEBEN,\ | | und er kehrt wieder zum Ungewordenen um.\ | | \ | | Wer seine Ehre kennt\ | | und seine Schmach bewahrt,\ | | der ist das Tal der Welt.\ | | Ist er das Tal der Welt,\ | | so hat er Genüge am ewigen LEBEN,\ | | und er kehrt zurück zur Einfalt.\ | | \ | | Ist die Einfalt zerstreut, so gibt es »brauchbare« Menschen.\ | | Übt der Berufene sie aus, so wird er der Herr der Beamten.\ | | Darum: Großartige Gestaltung\ | | bedarf nicht des Beschneidens. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 29\ | | | | Die Welt erobern und behandeln wollen,\ | | ich habe erlebt, daß das mißlingt.\ | | Die Welt ist ein geistiges Ding,\ | | das man nicht behandeln darf.\ | | Wer sie behandelt, verdirbt sie,\ | | wer sie festhalten will, verliert sie.\ | | Die Dinge gehen bald voran, bald folgen sie,\ | | bald hauchen sie warm, bald blasen sie kalt,\ | | bald sind sie stark, bald sind sie dünn,\ | | bald schwimmen sie oben, bald stürzen sie.\ | | Darum meidet der Berufene\ | | das Zusehr, das Zuviel, das Zugroß. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 30\ | | | | Wer im rechten SINN einem Menschenherrscher hilft,\ | | vergewaltigt nicht durch Waffen die Welt,\ | | denn die Handlungen kommen auf das eigene Haupt zurück.\ | | Wo die Heere geweilt haben, wachsen Disteln und Dornen.\ | | Hinter den Kämpfen her kommen immer Hungerjahre.\ | | Darum sucht der Tüchtige nur Entscheidung, nichts weiter;\ | | er wagt nicht, durch Gewalt zu erobern.\ | | Entscheidung, ohne sich zu brüsten,\ | | Entscheidung, ohne sich zu rühmen,\ | | Entscheidung, ohne stolz zu sein,\ | | Entscheidung, weil\'s nicht anders geht,\ | | Entscheidung, ferne von Gewalt. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 31\ | | | | Waffen sind unheilvolle Geräte,\ | | alle Wesen hassen sie wohl.\ | | Darum will der, der den rechten SINN hat,\ | | nichts von ihnen wissen.\ | | Der Edle in seinem gewöhnlichen Leben\ | | achtet die Linke als Ehrenplatz.\ | | Beim Waffenhandwerk\ | | ist die Rechte der Ehrenplatz.\ | | Die Wagen sind unheilvolle Geräte,\ | | nicht Geräte für den Edlen.\ | | Nur wenn er nicht anders kann, gebraucht er sie.\ | | Ruhe und Frieden sind ihm das Höchste.\ | | Er siegt, aber er freut sich nicht daran.\ | | Wer sich daran freuen wollte,\ | | würde sich ja des Menschenmordes freuen.\ | | Wer sich des Menschenmordes freuen wollte,\ | | kann nicht sein Ziel erreichen in der Welt.\ | | Bei Glücksfällen achtet man die Linke als Ehrenplatz.\ | | Bei Unglücksfällen achtet man die Rechte als Ehrenplatz.\ | | Der Unterfeldherr steht zur Linken,\ | | der Oberführer steht zur Rechten.\ | | Das heißt, er nimmt seinen Platz ein\ | | nach dem Brauch der Trauerfeiern.\ | | Menschen töten in großer Zahl,\ | | das soll man beklagen mit Tränen des Mitleids.\ | | Wer im Kampfe gesiegt,\ | | der soll wie bei einer Trauerfeier weilen. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 32\ | | | | Der SINN als Ewiger ist namenlose Einfalt.\ | | Obwohl klein,\ | | wagt die Welt ihn nicht zum Diener zu machen.\ | | Wenn Fürsten und Könige ihn so wahren könnten,\ | | so würden alle Dinge sich als Gäste einstellen.\ | | Himmel und Erde würden sich vereinen,\ | | um süßen Tau zu träufeln.\ | | Das Volk würde ohne Befehle\ | | von selbst ins Gleichgewicht kommen.\ | | Wenn die Gestaltung beginnt,\ | | dann erst gibt es Namen.\ | | Die Namen erreichen auch das Sein,\ | | und man weiß auch noch, wo haltzumachen ist.\ | | Weiß man, wo haltzumachen ist,\ | | so kommt man nicht in Gefahr.\ | | Man kann das Verhältnis des SINNS zur Welt vergleichen\ | | mit den Bergbächen und Talwassern,\ | | die sich in Ströme und Meere ergießen. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 33\ | | | | Wer andre kennt, ist klug.\ | | Wer sich selber kennt, ist weise.\ | | Wer andere besiegt, hat Kraft.\ | | Wer sich selber besiegt, ist stark.\ | | Wer sich durchsetzt, hat Willen.\ | | Wer sich genügen läßt, ist reich.\ | | Wer seinen Platz nicht verliert, hat Dauer.\ | | Wer auch im Tode nicht untergeht, der lebt. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 34\ | | | | Der große SINN ist überströmend;\ | | er kann zur Rechten sein und zur Linken.\ | | Alle Dinge verdanken ihm ihr Dasein,\ | | und er verweigert sich ihnen nicht.\ | | Ist das Werk vollbracht,\ | | so heißt er es nicht seinen Besitz.\ | | Er kleidet und nährt alle Dinge\ | | und spielt nicht ihren Herrn.\ | | Sofern er ewig nicht begehrend ist,\ | | kann man ihn als klein bezeichnen.\ | | Sofern alle Dinge von ihm abhängen,\ | | ohne ihn als Herrn zu kennen,\ | | kann man ihn als groß bezeichnen.\ | | \ | | Also auch der Berufene:\ | | Niemals macht er sich groß;\ | | darum bringt er sein Großes Werk zustande. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 35\ | | | | Wer festhält das große Urbild,\ | | zu dem kommt die Welt.\ | | Sie kommt und wird nicht verletzt,\ | | in Ruhe, Gleichheit und Seligkeit.\ | | \ | | Musik und Köder:\ | | Sie machen wohl den Wanderer auf seinem Wege anhalten.\ | | Der SINN geht aus dem Munde hervor,\ | | milde und ohne Geschmack.\ | | Du blickst nach ihm und siehst nichts Sonderliches.\ | | Du horchst nach ihm und hörst nichts Sonderliches.\ | | Du handelst nach ihm und findest kein Ende. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 36\ | | | | Was du zusammendrücken willst,\ | | das mußt du erst richtig sich ausdehnen lassen.\ | | Was du schwächen willst,\ | | das mußt du erst richtig stark werden lassen.\ | | Was du vernichten willst,\ | | das mußt du erst richtig aufblühen lassen.\ | | Wem du nehmen willst,\ | | dem mußt du erst richtig geben.\ | | Das heißt Klarheit über das Unsichtbare.\ | | Das Weiche siegt über das Harte.\ | | Das Schwache siegt über das Starke.\ | | Den Fisch darf man nicht der Tiefe entnehmen.\ | | Des Reiches Förderungsmittel darf man nicht den Leuten zeigen. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 37\ | | | | Der SINN ist ewig ohne Machen,\ | | und nichts bleibt ungernacht.\ | | Wenn Fürsten und Könige ihn zu wahren verstehen,\ | | so werden alle Dinge sich von selber gestalten.\ | | Gestalten sie sich und es erheben sich die Begierden,\ | | so würde ich sie bannen durch namenlose Einfalt.\ | | Namenlose Einfalt bewirkt Wunschlosigkeit.\ | | Wunschlosigkeit macht still,\ | | und die Welt wird von selber recht. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 38\ | | | | Wer das LEBEN hochhält,\ | | weiß nichts vom LEBEN;\ | | darum hat er LEBEN.\ | | Wer das LEBEN nicht hochhält,\ | | sucht das LEBEN nicht zu verlieren;\ | | darum hat er kein LEBEN.\ | | Wer das LEBEN hochhält,\ | | handelt nicht und hat keine Absichten.\ | | Wer das LEBEN nicht hochhält,\ | | handelt und hat Absichten.\ | | Wer die Liebe hochhält, handelt, aber hat keine Absichten.\ | | Wer die Gerechtigkeit hochhält, handelt und hat Absichten.\ | | Wer die Sitte hochhält, handelt,\ | | und wenn ihm jemand nicht erwidert,\ | | so fuchtelt er mit den Armen und holt ihn heran.\ | | Darum: Ist der SINN verloren, dann das LEBEN.\ | | Ist das LEBEN verloren, dann die Liebe.\ | | Ist die Liebe verloren, dann die Gerechtigkeit.\ | | Ist die Gerechtigkeit verloren, dann die Sitte.\ | | Die Sitte ist Treu und Glaubens Dürftigkeit\ | | und der Verwirrung Anfang.\ | | Vorherwissen ist des SINNES Schein\ | | und der Torheit Beginn.\ | | Darum bleibt der rechte Mann beim Völligen\ | | und nicht beim Dürftigen.\ | | Er wohnt im Sein und nicht im Schein.\ | | Er tut das andere ab und hält sich an dieses. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 39\ | | | | Die einst das Eine erlangten:\ | | \ | | Der Himmel erlangte das Eine und wurde rein.\ | | Die Erde erlangte das Eine und wurde fest.\ | | Die Götter erlangten das Eine und wurden mächtig.\ | | Das Tal erlangte das Eine und erfüllte sich.\ | | Alle Dinge erlangten das Eine und entstanden.\ | | Könige und Fürsten erlangten das Eine\ | | und wurden das Vorbild der Welt.\ | | Das alles ist durch das Eine bewirkt.\ | | Wäre der Himmel nicht rein dadurch, so müßte er bersten.\ | | Wäre die Erde nicht fest dadurch, so müßte sie wanken.\ | | Wären die Götter nicht mächtig dadurch,\ | | so müßten sie erstarren. Wäre das Tal nicht erfüllt dadurch,\ | | so müßte es sich erschöpfen.\ | | Wären alle Dinge nicht erstanden dadurch,\ | | so müßten sie erlöschen.\ | | Wären die Könige und Fürsten nicht erhaben dadurch,\ | | so müßten sie stürzen.\ | | \ | | Darum: Das Edle hat das Geringe zur Wurzel.\ | | Das Hohe hat das Niedrige zur Grundlage.\ | | \ | | Also auch die Fürsten und Könige:\ | | Sie nennen sich: »Einsam«, »Verwaist«, »Wenigkeit«.\ | | Dadurch bezeichnen sie das Geringe als ihre Wurzel.\ | | Oder ist es nicht so?\ | | \ | | Denn: Ohne die einzelnen Bestandteile eines Wagens\ | | gibt es keinen Wagen.\ | | Wünsche nicht das glänzende Gleißen des juwels,\ | | sondern die rohe Rauheit des Steins. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 40\ | | | | Rückkehr ist die Bewegung des SINNS.\ | | Schwachheit ist die Wirkung des SINNS.\ | | Alle Dinge unter dem Himmel entstehen im Sein.\ | | Das Sein entsteht im Nichtsein. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 41\ | | | | Wenn ein Weiser höchster Art vom SINN hört,\ | | so ist er eifrig und tut danach.\ | | Wenn ein Weiser mittlerer Art vom SINN hört,\ | | so glaubt er halb, halb zweifelt er.\ | | Wenn ein Weiser niedriger Art vom SINN hört,\ | | so lacht er laut darüber.\ | | Wenn er nicht laut lacht,\ | | so war es noch nicht der eigentliche SINN.\ | | \ | | Darum hat ein Spruchdichter die Worte:\ | | »Der klare SINN erscheint dunkel.\ | | Der SINN des Fortschritts erscheint als Rückzug.\ | | Der ebene SINN erscheint rauh.\ | | Das höchste LEBEN erscheint als Tal.\ | | Die höchste Reinheit erscheint als Schmach.\ | | Das weite LEBEN erscheint als ungenügend.\ | | Das starke LEBEN erscheint verstohlen.\ | | Das wahre Wesen erscheint veränderlich.\ | | Das große Geviert hat keine Ecken.\ | | Das große Gerät wird spät vollendet.\ | | Der große Ton hat unhörbaren Laut.\ | | Das große Bild hat keine Form. «\ | | \ | | Der SINN in seiner Verborgenheit ist ohne Namen.\ | | Und doch ist gerade der SINN gut\ | | im Spenden und Vollenden. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 42\ | | | | Der SINN erzeugt die Eins.\ | | Die Eins erzeugt die Zwei.\ | | Die Zwei erzeugt die Drei.\ | | Die Drei erzeugt alle Dinge.\ | | Alle Dinge haben im Rücken das Dunkle\ | | und streben nach dem Licht,\ | | und die strömende Kraft gibt ihnen Harmonie.\ | | \ | | Was die Menschen hassen,\ | | ist Verlassenheit, Einsamkeit, Wenigkeit.\ | | Und doch wählen Fürsten und Könige\ | | sie zu ihrer Selbstbezeichnung.\ | | Denn die Dinge werden\ | | entweder durch Verringerung vermehrt\ | | oder durch Vermehrung verringert.\ | | Was andre lehren, lehre ich auch:\ | | »Die Starken sterben nicht eines natürlichen Todes«.\ | | Das will ich zum Ausgangspunkt meiner Lehre machen. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 43\ | | | | Das Allerweichste auf Erden\ | | überholt das Allerhärteste auf Erden.\ | | Das Nichtseiende dringt auch noch ein in das,\ | | was keinen Zwischenraum hat.\ | | Daran erkennt man den Wert des Nicht-Handelns.\ | | Die Belehrung ohne Worte, den Wert des Nicht-Handelns\ | | erreichen nur wenige auf Erden. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 44\ | | | | Der Name oder die Person:\ | | was steht näher?\ | | Die Person oder der Besitz:\ | | was ist mehr?\ | | Gewinnen oder verlieren:\ | | was ist schlimmer?\ | | \ | | Nun aber:\ | | Wer sein Herz an andres hängt,\ | | verbraucht notwendig Großes.\ | | Wer viel sammelt,\ | | verliert notwendig Wichtiges.\ | | Wer sich genügen lässet,\ | |  kommt nicht in Schande.\ | | Wer Einhalt zu tun weiß,\ | | kommt nicht in Gefahr\ | | und kann so ewig dauern. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 45\ | | | | Große Vollendung muß wie unzulänglich erscheinen,\ | | so wird sie unendlich in ihrer Wirkung.\ | | Große Fülle muß wie strömend erscheinen,\ | | so wird sie unerschöpflich in ihrer Wirkung.\ | | Große Geradheit muß wie krumm erscheinen.\ | | Große Begabung muß wie dumm erscheinen.\ | | Große Beredsamkeit muß wie stumm erscheinen.\ | | Bewegung überwindet die Kälte.\ | | Stille überwindet die Hitze.\ | | Reinheit und Stille sind der Welt Richtmaß. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 46\ | | | | Wenn der SINN herrscht auf Erden,\ | | so tut man die Rennpferde ab zum Dungführen.\ | | Wenn der SINN abhanden ist auf Erden,\ | | so werden Kriegsrosse gezüchtet auf dem Anger.\ | | Es gibt keine größere Sünde als viele Wünsche.\ | | Es gibt kein größeres Übel als kein Genüge kennen.\ | | Es gibt keinen größeren Fehler als haben wollen.\ | | \ | | Darum:\ | | Das Genügen der Genügsamkeit ist dauerndes Genügen. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 47\ | | | | Ohne aus der Tür zu gehen,\ | | kennt man die Welt.\ | | Ohne aus dem Fenster zu schauen,\ | | sieht man den SINN des Himmels.\ | | Je weiter einer hinausgeht,\ | | desto geringer wird sein Wissen.\ | | \ | | Darum braucht der Berufene nicht zu gehen\ | | und weiß doch alles.\ | | Er braucht nicht zu sehen\ | | und ist doch klar.\ | | Er braucht nichts zu machen\ | | und vollendet doch. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 48\ | | | | Wer das Lernen übt, vermehrt täglich.\ | | Wer den SINN übt, vermindert täglich.\ | | Er vermindert und vermindert,\ | | bis er schließlich ankommt beim Nichtsmachen.\ | | Beim Nichtsmachen bleibt nichts ungemacht.\ | | Das Reich erlangen kann man nur,\ | | wenn man immer frei bleibt von Geschäftigkeit.\ | | Die Vielbeschäftigten sind nicht geschickt,\ | | das Reich zu erlangen. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 49\ | | | | Der Berufene hat kein eigenes Herz.\ | | Er macht das Herz der Leute zu seinem Herzen.\ | | Zu den Guten bin ich gut,\ | | zu den Nichtguten bin ich auch gut;\ | | denn das LEBEN ist die Güte.\ | | Zu den Treuen bin ich treu,\ | | zu den Untreuen bin ich auch treu;\ | | denn das LEBEN ist die Treue.\ | | Der Berufene lebt in der Welt ganz still\ | | und macht sein Herz für die Welt weit.\ | | Die Leute alle blicken und horchen nach ihm.\ | | Und der Berufene nimmt sie alle an als seine Kinder. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 50\ | | | | Ausgehen ist Leben, eingehen ist Tod.\ | | Gesellen des Lebens gibt es drei unter zehn,\ | | Gesellen des Todes gibt es drei unter zehn.\ | | Menschen, die leben\ | | und dabei sich auf den Ort des Todes zubewegen,\ | | gibt es auch drei unter zehn.\ | | Was ist der Grund davon?\ | | Weil sie ihres Lebens Steigerung erzeugen wollen.\ | | Ich habe wohl gehört, wer gut das Leben zu führen weiß,\ | | der wandert über Land\ | | und trifft nicht Nashorn noch Tiger.\ | | Er schreitet durch ein Heer\ | | und meidet nicht Panzer und Waffen.\ | | Das Nashorn findet nichts, worein es sein Horn bohren kann.\ | | Der Tiger findet nichts,\ | | darein er seine Krallen schlagen kann.\ | | Die Waffe findet nichts, das ihre Schärfe aufnehmen kann.\ | | Warum das?\ | | Weil er keine sterbliche Stelle hat. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 51\ | | | | Der SINN erzeugt.\ | | Das LEBEN nährt.\ | | Die Umgebung gestaltet.\ | | Die Einflüsse vollenden.\ | | Darum ehren alle Wesen den SINN\ | | und schätzen das LEBEN.\ | | Der SINN wird geehrt,\ | | das LEBEN wird geschätzt\ | | ohne äußere Ernennung, ganz von selbst.\ | | \ | | Also: der SINN erzeugt, das LEBEN nährt,\ | | läßt wachsen, pflegt,\ | | vollendet, hält,\ | | bedeckt und schirmt. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 52\ | | | | Die Welt hat einen Anfang,\ | | das ist die Mutter der Welt.\ | | Wer die Mutter findet,\ | | um ihre Söhne zu kennen,\ | | wer ihre Söhne kennt\ | | und sich wieder zur Mutter wendet,\ | | der kommt sein Leben lang nicht in Gefahr.\ | | Wer seinen Mund schließt\ | | und seine Pforten zumacht,\ | | der kommt sein Leben lang nicht in Mühen.\ | | Wer seinen Mund auftut\ | | und seine Geschäfte in Ordnung bringen will,\ | | dem ist sein Leben lang nicht zu helfen.\ | | Das Kleinste sehen heißt klar sein.\ | | Die Weisheit wahren heißt stark sein.\ | | Wenn man sein Licht benützt,\ | | um zu dieser Klarheit zurückzukehren,\ | | so bringt man seine Person nicht in Gefahr.\ | | Das heißt die Hülle der Ewigkeit. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 53\ | | | | Wenn ich wirklich weiß, was es heißt,\ | | im großen SINN zu leben,\ | | so ist es vor allem die Geschäftigkeit,\ | | die ich fürchte.\ | | Wo die großen Straßen schön und eben sind,\ | | aber das Volk Seitenwege liebt;\ | | wo die Hofgesetze streng sind,\ | | aber die Felder voll Unkraut stehen;\ | | wo die Scheunen ganz leer sind,\ | | aber die Kleidung schmuck und prächtig ist;\ | | wo jeder ein scharfes Schwert im Gürtel trägt;\ | | wo man heikel ist im Essen und Trinken\ | | und Güter im Überfluß sind:\ | | da herrscht Verwirrung, nicht Regierung. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 54\ | | | | Was gut gepflanzt ist, wird nicht ausgerissen.\ | | Was gut festgehalten wird, wird nicht entgehen.\ | | Wer sein Gedächtnis Söhnen und Enkeln hinterläßt,\ | | hört nicht auf.\ | | Wer seine Person gestaltet, dessen Leben wird wahr.\ | | Wer seine Familie gestaltet, dessen Leben wird völlig.\ | | Wer seine Gemeinde gestaltet, dessen Leben wird wachsen.\ | | Wer sein Land gestaltet, dessen Leben wird reich.\ | | Wer die Welt gestaltet, dessen Leben wird weit.\ | | \ | | Darum: Nach deiner Person beurteile die Person des andern.\ | | Nach deiner Familie beurteile die Familie der andern.\ | | Nach deiner Gemeinde beurteile die Gemeinde der andern.\ | | Nach deinem Land beurteile das Land der andern.\ | | Nach deiner Welt beurteile die Welt der andern.\ | | Wie weiß ich die Beschaffenheit der Welt?\ | | Eben durch dies. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 55\ | | | | Wer festhält des LEBENS Völligkeit,\ | | der gleicht einem neugeborenen Kindlein:\ | | Giftige Schlangen stechen es nicht.\ | | Reißende Tiere packen es nicht.\ | | Raubvögel stoßen nicht nach ihm.\ | | Seine Knochen sind schwach, seine Sehnen weich,\ | | und doch kann es fest zugreifen.\ | | Es weiß noch nichts von Mann und Weib,\ | | und doch regt sich sein Blut,\ | | weil es des Samens Fülle hat.\ | | Es kann den ganzen Tag schreien,\ | | und doch wird seine Stimme nicht heiser,\ | | weil es des Friedens Fülle hat.\ | | Den Frieden erkennen heißt ewig sein.\ | | Die Ewigkeit erkennen heißt klar sein.\ | | Das Leben mehren nennt man Glück.\ | | Für sein Begehren seine Kraft einsetzen nennt man stark.\ | | Sind die Dinge stark geworden, altem sie.\ | | Denn das ist Wider-SINN.\ | | Und Wider-SINN ist nahe dem Ende. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 56\ | | | | Der Wissende redet nicht.\ | | Der Redende weiß nicht.\ | | Man muß seinen Mund schließen\ | | und seine Pforten zumachen,\ | | seinen Scharfsinn abstumpfen,\ | | seine wirren Gedanken auflösen,\ | | sein Licht mäßigen,\ | | sein Irdisches gemeinsam machen.\ | | Das heißt verborgene Gemeinsamkeit (mit dem SINN).\ | | Wer die hat, den kann man nicht beeinflussen durch Liebe\ | | und kann ihn nicht beeinflussen durch Kälte.\ | | Man kann ihn nicht beeinflussen durch Gewinn\ | | und kann ihn nicht beeinflussen durch Schaden.\ | | Man kann ihn nicht beeinflussen durch Herrlichkeit\ | | und kann ihn nicht beeinflussen durch Niedrigkeit.\ | | Darum ist er der Herrlichste auf Erden. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 57\ | | | | Zur Leitung des Staates braucht man Regierungskunst,\ | | zum Waffenhandwerk braucht man\ | | außerordentliche Begabung.\ | | Um aber die Welt zu gewinnen,\ | | muß man frei sein von Geschäftigkeit.\ | | Woher weiß ich, daß es also mit der Welt steht?\ | | je mehr es Dinge in der Welt gibt, die man nicht tun darf,\ | | desto mehr verarmt das Volk.\ | | Je mehr die Menschen scharfe Geräte haben,\ | | desto mehr kommen Haus und Staat ins Verderben.\ | | Je mehr die Leute Kunst und Schlauheit pflegen,\ | | desto mehr erheben sich böse Zeichen.\ | | Je mehr die Gesetze und Befehle prangen,\ | | desto mehr gibt es Diebe und Räuber.\ | | \ | | Darum spricht ein Berufener:\ | | Wenn wir nichts machen,\ | | so wandelt sich von selbst das Volk.\ | | Wenn wir die Stille lieben,\ | | so wird das Volk von selber recht.\ | | Wenn wir nichts unternehmen,\ | | so wird das Volk von selber reich.\ | | Wenn wir keine Begierden haben,\ | | so wird das Volk von selber einfältig. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 58\ | | | | Wessen Regierung still und unaufdringlich ist,\ | | dessen Volk ist aufrichtig und ehrlich.\ | | Wessen Regierung scharfsinnig und stramm ist,\ | | dessen Volk ist hinterlistig und unzuverlässig.\ | | Das Unglück ist\'s, worauf das Glück beruht;\ | | das Glück ist es, worauf das Unglück lauert.\ | | Wer erkennt aber, daß es das Höchste ist,\ | | wenn nicht geordnet wird?\ | | Denn sonst verkehrt die Ordnung sich in Wunderlichkeiten,\ | | und das Gute verkehrt sich in Aberglaube.\ | | Und die Tage der Verblendung des Volkes\ | | dauern wahrlich lange.\ | | \ | | Also auch der Berufene:\ | | Er ist Vorbild, ohne zu beschneiden,\ | | er ist gewissenhaft, ohne zu verletzen,\ | | er ist echt, ohne Willkürlichkeiten,\ | | er ist licht, ohne zu blenden. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 59\ | | | | Bei der Leitung der Menschen und beim Dienst des Himmels\ | | gibt es nichts Besseres als Beschränkung.\ | | Denn nur durch Beschränkung\ | | kann man frühzeitig die Dinge behandeln.\ | | Durch frühzeitiges Behandeln der Dinge\ | | sammelt man doppelt die Kräfte des LEBENS.\ | | Durch diese verdoppelten Kräfte des LEBENS\ | | ist man jeder Lage gewachsen.\ | | Ist man jeder Lage gewachsen,\ | | so kennt niemand unsere Grenzen.\ | | Wenn niemand unsere Grenzen kennt,\ | | können wir die Welt besitzen.\ | | Besitzt man die Mutter der Welt,\ | | so gewinnt man ewige Dauer.\ | | Das ist der SINN der tiefen Wurzel,\ | | des festen Grundes,\ | | des ewigen Daseins\ | | und des dauernden Schauens. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 60\ | | | | Ein großes Land muß man leiten,\ | | wie man kleine Fischlein brät.\ | | Wenn man die Welt verwaltet nach dem SINN,\ | | dann gehen die Abgeschiedenen nicht als Geister um.\ | | Nicht, daß die Abgeschiedenen keine Geister wären,\ | | doch ihre Geister schaden den Menschen nicht.\ | | Nicht nur die Geister schaden den Menschen nicht:\ | | auch der Berufene schadet ihnen nicht.\ | | Wenn nun diese beiden Mächte einander nicht verletzen,\ | | so vereinigen sich ihre LEBENSKRÄFTE in ihrer Wirkung. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 61\ | | | | Indem ein großes Reich sich stromabwärts hält,\ | | wird es die Vereinigung der Welt.\ | | Es ist das Weibliche der Welt.\ | | Das Weibliche siegt immer\ | | durch seine Stille über das Männliche.\ | | Durch seine Stille hält es sich unten.\ | | Wenn so das große Reich sich unter das kleine stellt,\ | | so gewinnt es dadurch das kleine Reich.\ | | Wenn das kleine Reich sich unter das große stellt,\ | | so wird es dadurch von dem großen Reich gewonnen.\ | | So wird das eine dadurch, daß es sich unten hält, gewinnen,\ | | und das andere dadurch, daß es sich unten hält, gewonnen.\ | | Das große Reich will nichts anderes\ | | als die Menschen vereinigen und nähren.\ | | Das kleine Reich will nichts anderes\ | | als sich beteiligen am Dienst der Menschen.\ | | So erreicht jedes, was es will;\ | | aber das große muß unten bleiben. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 62\ | | | | Der SINN ist aller Dinge Heimat,\ | | der guten Menschen Schatz,\ | | der nichtguten Menschen Schutz.\ | | Mit schönen Worten kann man zu Markte gehen.\ | | Mit ehrenhaftem Wandel\ | | kann man sich vor andern hervortun.\ | | Aber die Nichtguten unter den Menschen,\ | | warum sollte man die wegwerfen?\ | | Darum ist der Herrscher eingesetzt,\ | | und die Fürsten haben ihr Amt.\ | | Ob man auch Zepter von Juwelen hätte,\ | | um sie im feierlichen Viererzug zu übersenden,\ | | nicht kommt das der Gabe gleich,\ | | wenn man diesen SINN\ | | auf seinen Knien dem Herrscher darbringt.\ | | Warum hielten die Alten diesen SINN so wert?\ | | Ist es nicht deshalb, daß es von ihm heißt:\ | | »Wer bittet, der empfängt;\ | | wer Sünden hat, dem werden sie vergeben«?\ | | Darum ist er das Köstlichste auf Erden. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 63\ | | | | Wer das Nichthandeln übt,\ | | sich mit Beschäftigungslosigkeit beschäftigt,\ | | Geschmack findet an dem, was nicht schmeckt:\ | | der sieht das Große im Kleinen und das Viele im Wenigen.\ | | Er vergilt Groll durch LEBEN.\ | | Plane das Schwierige da, wo es noch leicht ist!\ | | Tue das Große da, wo es noch klein ist!\ | | Alles Schwere auf Erden beginnt stets als Leichtes.\ | | Alles Große auf Erden beginnt stets als Kleines.\ | | \ | | Darum: Tut der Berufene nie etwas Großes,\ | | so kann er seine großen Taten vollenden.\ | | Wer leicht verspricht,\ | | hält sicher selten Wort.\ | | Wer vieles leicht nimmt,\ | | hat sicher viele Schwierigkeiten.\ | | Darum: Bedenkt der Berufene die Schwierigkeiten,\ | | so hat er nie Schwierigkeiten. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 64\ | | | | Was noch ruhig ist, läßt sich leicht ergreifen.\ | | Was noch nicht hervortritt, läßt sich leicht bedenken.\ | | Was noch zart ist, läßt sich leicht zerbrechen.\ | | Was noch klein ist, läßt sich leicht zerstreuen.\ | | Man muß wirken auf das, was noch nicht da ist.\ | | Man muß ordnen, was noch nicht in Verwirrung ist.\ | | Ein Baum von einem Klafter Umfang\ | | entsteht aus einem haarfeinen Hälmchen.\ | | Ein neun Stufen hoher Turm\ | | entsteht aus einem Häufchen Erde.\ | | Eine tausend Meilen weite Reise\ | | beginnt vor deinen Füßen.\ | | Wer handelt, verdirbt es.\ | | Wer festhält, verliert es.\ | | \ | | Also auch der Berufene:\ | | Er handelt nicht, so verdirbt er nichts.\ | | Er hält nicht fest, so verliert er nichts.\ | | Die Leute gehen an ihre Sachen,\ | | und immer wenn sie fast fertig sind,\ | | so verderben sie es.\ | | Das Ende ebenso in acht nehmen wie den Anfang,\ | | dann gibt es keine verdorbenen Sachen.\ | | \ | | Also auch der Berufene:\ | | Er wünscht Wunschlosigkeit.\ | | Er hält nicht wert schwer zu erlangende Güter.\ | | Er lernt das Nichtlernen.\ | | Er wendet sich zu dem zurück, an dem die Menge vorübergeht.\ | | Dadurch fördert er den natürlichen Lauf der Dinge\ | | und wagt nicht zu handeln. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 65\ | | | | Die vor alters tüchtig waren\ | | im Walten nach dem SINN,\ | | taten es nicht durch Aufklärung des Volkes,\ | | sondern dadurch, daß sie das Volk töricht hielten.\ | | Daß das Volk schwer zu leiten ist, kommt daher,\ | | daß es zuviel weiß.\ | | \ | | Darum: Wer durch Wissen den Staat leitet,\ | | ist der Räuber des Staats.\ | | Wer nicht durch Wissen den Staat leitet,\ | | ist das Glück des Staats.\ | | Wer diese beiden Dinge weiß, der hat ein Ideal.\ | | Immer dies Ideal zu kennen, ist verborgenes LEBEN.\ | | Verborgenes LEBEN ist tief, weitreichend,\ | | anders als alle Dinge;\ | | aber zuletzt bewirkt es das große Gelingen. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 66\ | | | | Daß Ströme und Meere Könige aller Bäche sind,\ | | kommt daher, daß sie sich gut unten halten können.\ | | Darum sind sie die Könige aller Bäche.\ | | \ | | Also auch der Berufene:\ | | Wenn er über seinen Leuten stehen will,\ | | so stellt er sich in seinem Reden unter sie.\ | | Wenn er seinen Leuten voran sein will,\ | | so stellt er sich in seiner Person hintan.\ | | Also auch:\ | | Er weilt in der Höhe,\ | | und die Leute werden durch ihn nicht belastet.\ | | Er weilt am ersten Platze,\ | | und die Leute werden von ihm nicht verletzt.\ | | Also auch:\ | | Die ganze Welt ist willig, ihn voranzubringen,\ | | und wird nicht unwillig.\ | | Weil er nicht streitet,\ | | kann niemand auf der Welt mit ihm streiten. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 67\ | | | | Alle Welt sagt, mein SINN sei zwar groß,\ | | aber sozusagen unbrauchbar.\ | | Gerade weil er groß ist,\ | | deshalb ist er sozusagen unbrauchbar.\ | | Wenn er brauchbar wäre,\ | | so wäre er längst klein geworden.\ | | Ich habe drei Schätze,\ | | die ich schätze und wahre.\ | | Der eine heißt: die Liebe;\ | | der zweite heißt: die Genügsamkeit;\ | | der dritte heißt: nicht wagen, in der Welt voranzustehen.\ | | Durch Liebe kann man mutig sein,\ | | durch Genügsamkeit kann man weitherzig sein.\ | | Wenn man nicht wagt, in der Welt voranzustehen,\ | | kann man das Haupt der fertigen Menschen sein.\ | | Wenn man nun ohne Liebe mutig sein will,\ | | wenn man ohne Genügsamkeit weitherzig sein will,\ | | wenn man ohne zurückzustehen vorankommen will:\ | | das ist der Tod.\ | | Wenn man Liebe hat im Kampf,\ | | so siegt man.\ | | Wenn man sie hat bei der Verteidigung,\ | | so ist man unüberwindlich.\ | | Wen der Himmel retten will,\ | | den schützt er durch die Liebe. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 68\ | | | | Wer gut zu führen weiß,\ | | ist nicht kriegerisch.\ | | Wer gut zu kämpfen weiß,\ | | ist nicht zornig.\ | | Wer gut die Feinde zu besiegen weiß,\ | | kämpft nicht mit ihnen.\ | | Wer gut die Menschen zu gebrauchen weiß,\ | | der hält sich unten.\ | | Das ist das LEBEN, das nicht streitet;\ | | das ist die Kraft, die Menschen zu gebrauchen;\ | | das ist der Pol, der bis zum Himmel reicht. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 69\ | | | | Bei den Soldaten gibt es ein Wort:\ | | Ich wage nicht, den Herrn zu machen,\ | | sondern mache lieber den Gast.\ | | Ich wage nicht, einen Zoll vorzurücken,\ | | sondern ziehe mich lieber einen Fuß zurück.\ | | Das heißt gehen ohne Beine,\ | | fechten ohne Arme,\ | | werfen, ohne anzugreifen,\ | | halten, ohne die Waffen zu gebrauchen.\ | | \ | | Es gibt kein größeres Unglück,\ | | als den Feind zu unterschätzen.\ | | Wenn ich den Feind unterschätze,\ | | stehe ich in Gefahr, meine Schätze zu verlieren.\ | | Wo zwei Armeen kämpfend aufeinanderstoßen,\ | | da siegt der, der es schweren Herzens tut. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 70\ | | | | Meine Worte sind sehr leicht zu verstehen,\ | | sehr leicht auszuführen.\ | | Aber niemand auf Erden kann sie verstehen,\ | | kann sie ausführen.\ | | Die Worte haben einen Ahn.\ | | Die Taten haben einen Herrn.\ | | Weil man die nicht versteht,\ | | versteht man mich nicht.\ | | Eben daß ich so selten verstanden werde,\ | | darauf beruht mein Wert.\ | | Darum geht der Berufene im härenen Gewand ;\ | | aber im Busen birgt er ein Juwel. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 71\ | | | | Die Nichtwissenheit wissen\ | | ist das Höchste.\ | | Nicht wissen, was Wissen ist,\ | | ist ein Leiden.\ | | Nur wenn man unter diesem Leiden leidet,\ | | wird man frei von Leiden.\ | | Daß der Berufene nicht leidet,\ | | kommt daher, daß er an diesem Leiden leidet;\ | | darum leidet er nicht. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 72\ | | | | Wenn die Leute das Schreckliche nicht fürchten,\ | | dann kommt der große Schrecken.\ | | Macht nicht eng ihre Wohnung\ | | und nicht verdrießlich ihr Leben.\ | | Denn nur dadurch, daß sie nicht in der Enge leben,\ | | wird ihr Leben nicht verdrießlich.\ | | \ | | Also auch der Berufene:\ | | Er erkennt sich selbst, aber er will nicht scheinen.\ | | Er liebt sich selbst, aber er sucht nicht Ehre für sich.\ | | Er entfernt das andere und nimmt dieses. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 73\ | | | | Wer Mut zeigt in Waghalsigkeiten,\ | | der kommt um.\ | | Wer Mut zeigt, ohne waghalsig zu sein,\ | | der bleibt am Leben.\ | | Von diesen beiden hat die eine Art Gewinn,\ | | die andre Schaden.\ | | Wer aber weiß den Grund davon,\ | | daß der Himmel einen haßt?\ | | \ | | Also auch der Berufene:\ | | Er sieht die Schwierigkeiten.\ | | Des Himmels SINN streitet nicht\ | | und ist doch gut im Siegen.\ | | Er redet nicht\ | | und findet doch gute Antwort.\ | | Er winkt nicht,\ | | und es kommt doch alles von selbst.\ | | Er ist gelassen und ist doch gut im Planen.\ | | Des Himmels Netz ist ganz weitmaschig,\ | | aber es verliert nichts. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 74\ | | | | Wenn die Leute den Tod nicht scheuen,\ | | wie will man sie denn mit dem Tode einschüchtern?\ | | Wenn ich aber die Leute\ | | beständig in Furcht vor dem Tode halte,\ | | und wenn einer Wunderliches treibt,\ | | soll ich ihn ergreifen und töten?\ | | Wer traut sich das?\ | | Es gibt immer eine Todesmacht, die tötet.\ | | Anstelle dieser Todesmacht zu töten, das ist,\ | | wie wenn man anstelle eines Zimmermanns\ | | die Axt führen wollte.\ | | Wer statt des Zimmermanns die Axt führen wollte,\ | | kommt selten davon,\ | | ohne daß er sich die Hand verletzt. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 75\ | | | | Daß das Volk hungert,\ | | kommt davon her,\ | | daß seine Oberen zu viele Steuern fressen;\ | | darum hungert es.\ | | Daß das Volk schwer zu leiten ist,\ | | kommt davon her, daß seine Oberen zu viel machen;\ | | darum ist es schwer zu leiten.\ | | Daß das Volk den Tod zu leicht nimmt,\ | | kommt davon her,\ | | daß seine Oberen des Lebens Fülle zu reichlich suchen;\ | | darum nimmt es den Tod zu leicht.\ | | Wer aber nicht um des Lebens willen handelt,\ | | der ist besser als der, dem das Leben teuer ist. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 76\ | | | | Der Mensch, wenn er ins Leben tritt,\ | | ist weich und schwach,\ | | und wenn er stirbt,\ | | so ist er hart und stark.\ | | Die Pflanzen, wenn sie ins Leben treten,\ | | sind weich und zart,\ | | und wenn sie sterben,\ | | sind sie dürr und starr.\ | | Darum sind die Harten und Starken\ | | Gesellen des Todes,\ | | die Weichen und Schwachen\ | | Gesellen des Lebens.\ | | \ | | Darum:\ | | Sind die Waffen stark, so siegen sie nicht.\ | | Sind die Bäume stark, so werden sie gefällt.\ | | Das Starke und Große ist unten.\ | | Das Weiche und Schwache ist oben. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 77\ | | | | Des Himmels SINN, wie gleicht er dem Bogenspanner!\ | | Das Hohe drückt er nieder,\ | | das Tiefe erhöht er.\ | | Was zuviel hat, verringert er,\ | | was nicht genug hat, ergänzt er.\ | | Des Himmels SINN ist es,\ | | was zu viel hat, zu verringern, was nicht genug hat, zu ergänzen.\ | | Des Menschen Sinn ist nicht also.\ | | Er verringert, was nicht genug hat,\ | | um es darzubringen dem, das zuviel hat.\ | | Wer aber ist imstande, das,\ | | was er zuviel hat, der Welt darzubringen?\ | | Nur der, so den SINN hat.\ | | \ | | Also auch der Berufene:\ | | Er wirkt und behält nicht.\ | | Ist das Werk vollbracht, so verharrt er nicht dabei.\ | | Er wünscht nicht, seine Bedeutung vor andern zu zeigen. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 78\ | | | | Auf der ganzen Welt\ | | gibt es nichts Weicheres und Schwächeres als dasWasser.\ | | Und doch in der Art, wie es dem Harten zusetzt,\ | | kommt nichts ihm gleich.\ | | Es kann durch nichts verändert werden.\ | | Daß Schwaches das Starke besiegt\ | | und Weiches das Harte besiegt,\ | | weiß jedermann auf Erden,\ | | aber niemand vermag danach zu handeln.\ | | \ | | Also auch hat ein Berufener gesagt:\ | | »Wer den Schmutz des Reiches auf sich nimmt,\ | | der ist der Herr bei Erdopfern.\ | | Wer das Unglück des Reiches auf sich nimmt,\ | | der ist der König der Welt.«\ | | Wahre Worte sind wie umgekehrt. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 79\ | | | | Versöhnt man großen Groll,\ | | und es bleibt noch Groll übrig,\ | | wie wäre das gut?\ | | Darum hält der Berufene sich an seine Pflicht\ | | und verlangt nichts von anderen.\ | | \ | | Darum: Wer LEBEN hat\ | | hält sich an seine Pflicht,\ | | wer kein LEBEN hat hält,\ | | sich an sein Recht. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 80\ | | | | Ein Land mag klein sein\ | | und seine Bewohner wenig.\ | | Geräte, die der Menschen Kraft vervielfältigen,\ | | lasse man nicht gebrauchen.\ | | Man lasse das Volk den Tod wichtig nehmen\ | | und nicht in die Ferne reisen.\ | | Ob auch Schiffe und Wagen vorhanden wären,\ | | sei niemand, der darin fahre.\ | | Ob auch Panzer und Wagen da wären,\ | | sei niemand, der sie entfalte\ | | Man lasse das Volk wieder Stricke knoten\ | | und sie gebrauchen statt der Schrift.\ | | Mach süß sein Speise\ | | und schön seine Kleidung,\ | | friedlich seine Wohnung\ | | und fröhlich seine Sitten.\ | | Nachbarländer mögen in Sehweite liegen,\ | | daß man den Ruf der Hähne und Hunde\ | | gegenseitig hören kann:\ | | und doch sollen die Leute im höchsten Alter sterben,\ | | ohne hin und her gereist zu sein. | +-----------------------------------------------------------------------+ +-----------------------------------------------------------------------+ | \ | | 81\ | | | | Wahre Worte sind nicht schön,\ | | schöne Worte sind nicht wahr.\ | | Tüchtigkeit überredet nicht,\ | | Überredung ist nicht tüchtig.\ | | Der Weise ist nicht gelehrt,\ | | der Gelehrte ist nicht weise.\ | | Der Berufene häuft keinen Besitz auf.\ | | Je mehr er für andere tut,\ | | desto mehr besitzt er.\ | | Je mehr er anderen gibt,\ | | desto mehr hat er.\ | | Des Himmels SINN ist fördern, ohne zu schaden.\ | | Des Berufenen SINN ist wirken, ohne zu streiten. | +-----------------------------------------------------------------------+ \ Copyright © Dan Baruth 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